Bewusst nach innen gehen

Mit dem November kehrt Ruhe ein. Wir sehen und spüren das auf verschiedenen Ebenen. Ein Spaziergang im November hat eine ganz andere Qualität als ein Spaziergang im Mai. Still ist es. Die vorherrschenden Farben haben ihre Leuchtkraft verloren. Feucht ist es und kalt. Der Nebel lässt alles unwirklich und nicht greifbar erscheinen. Für manchen Spaziergang muss man sich innerlich überwinden, viel lieber bleibt man zu Hause bei warmem Kerzenschein und einer Tasse Tee. Indem die Natur sich zurückzieht, dürfen auch wir uns zurückziehen. Doch dies ist in unserer Welt gar nicht so einfach. Die konstante Erreichbarkeit, der Wahnsinn des Einkaufsstresses zur bevorstehenden Adventszeit und der permanente Druck in der Wirtschaftswelt machen es uns schwer, in diese wohltuende Ruhe und Stille zu gehen.

Ist das der Grund, weshalb der November so unbeliebt ist? Denn er stellt sich der nach vorne gerichteten linearen Welt komplett quer. Und gerade deshalb sollten wir ihn schätzen lernen. Denn seine Ruhe kann auch unsere Ruhe werden. Der Rückzug der Natur kann auch unser Rückzug sein. Wir Menschen sind zyklische Wesen. Wir werden rhythmisch begleitet und geführt durch unseren Atem und unser Herz. Aus dieser Sicht betrachtet ist es nachvollziehbar, dass wir nach jeder Expansion, nach jeder getanen Arbeit auch wieder ruhen sollten. Es entbehrt jeglicher Logik, dass wir immer mehr, immer weiter, immer höher hinauswollen. Denn unser Ursprung, unsere eigentliche Quelle des Seins, braucht immer auch den Gegenpol. Nur so können wir ganzheitlich wirken. Indem wir zum Wachstum auch den Rückzug leben.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Wachstum an und für sich etwas Gutes ist. Wir sehen Wachstum überall in der Natur. Alles in der Natur strebt danach zu wachsen, sich zu entwickeln und entfalten – doch sie tut dies, indem sie sich immer auch Ruhe und Rückzug gönnt. Beide Energien halten sich in der Natur die Waage. Können wir das auch von uns sagen? Der November ermahnt uns sehr wohlwollend, den getakteten Rhythmus der Gesellschaft dem der Natur anzupassen. Wir besinnen uns dadurch auf den eigenen inneren Rhythmus. Wir erkennen seine wohltuende Stille, seine Ruhe, seine Erholungskraft. Sein Nebel wirkt plötzlich wie eine Decke, die jeden beschützend umhüllt, der sich zurückziehen will.

Doch der November ermöglicht uns nicht nur Ruhe und Einkehr. Er trägt noch eine andere, tiefere Symbolik in sich. Praktisch alles in der Natur hat sich zurückgezogen. Die Erde ruht. Sie besinnt sich auf ihre Wurzelkraft und rüstet sich für das neue Leben. Für den kommenden Frühling. Der vermeintliche Tod der Natur ist gleichzeitig seine Wiedergeburt. Der Jahreskreislauf geht immer weiter. Für einen Neuanfang braucht es auch immer ein Ende. Der November steht für dieses Ende – welches dann doch nie das Ende ist. Denn alles bewegt sich im Kreis und entwickelt sich weiter. Wie eine Spirale, die alles mitnimmt, was aus dem letzten Kreislauf an Erkenntnissen und Erfahrungen gewonnen werden konnte. Wenn wir also wirklich wachsen wollen, wenn wir unser Innerstes mit Weisheit und Bewusstsein nähren wollen, müssen wir zuerst in die Schattenwelt abtauchen. In unser Wurzelwerk, unsere eigene Dunkelheit. So wie alle Pflanzen ihre Energien nach innen ziehen und in der Erde ruhen. So dürfen auch wir symbolisch unsere Energien nach innen richten. Denn nur dort entdecken wir unsere Wahrheit, unsere eigenen Erkenntnisse, und können diese dann wiederum mit dem neuen Kreislauf mitnehmen und zur Entfaltung bringen.

Die Natur befindet sich symbolisch in ihrer Phase der Weisheit. Nicht das Licht wird mit der Weisheit verbunden, sondern die Dunkelheit. In der Dunkelheit, wenn alles still ist, wenn alles zur Ruhe kommen darf, empfangen wir die wichtigen Botschaften. Vielleicht ist es nun nachvollziehbar, warum diese Zeit für uns alle so wertvoll, so kostbar, so unglaublich schön sein kann. Denn die Dunkelheit des Novembers hat durch dieses Wissen seinen Schrecken verloren. Wir dürfen ihn offenen Herzens willkommen heißen. Wissend, dass er uns gleichzeitig das schönste Licht ermöglicht. Denn die Dunkelheit des Novembers ermöglicht uns den Zugang zu uns selbst.

Und noch eine wunderbare Symbolik hält der November für uns bereit. Er lädt uns dazu ein, mit unseren Ahnen Kontakt aufzunehmen. Denn unsere Ahnen sind nichts anderes als unsere Wurzeln. Sie sind unsere tief verborgene Kraft, der wir uns vielleicht nicht immer bewusst sind, doch der wir gerade im November gedenken und ehren können. Früher gab es keine Trennung zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Die Menschen fühlten sich begleitet von ihren Ahnen. Sie standen wohlwollend und beratend zur Seite. Sie wurden verehrt, zu Rate gezogen und in wichtige Entscheidungen der Sippe mit einbezogen. Es ist nun vielleicht auch nachvollziehbar, weshalb der Monat November auch heute noch für die Ahnen steht. Denn der Fokus richtete sich ab dem November nach innen. Die Jahresarbeit war getan, sie konnten noch mehr als sonst mit ihren Ahnen Kontakt aufnehmen. Auch widmeten sie sich vermehrt der eigenen Seelenwelt und baten ihre Ahnen um Unterstützung. Nimm nun diese wunderbare Symbolik in dich auf und begib dich achtsam und voller Vertrauen in den November. Tauche ab – wissend, dass die Dunkelheit der Natur für Ruhe, Schutz, Erholung, wohltuende Stille und Kraft steht.